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Prozess oder Posse? Lebensmittelretter vor Gericht

Lahnstein | 14. April 2022 | Willi Willig. „Worum geht es hier eigentlich?“ – eine Frage, die man sich in deutschen Gerichtssälen eher selten stellen muss. Am Lahnsteiner Amtsgericht wurde gestern ein Fall verhandelt – eventuell sollte man auch besser sagen: musste gestern ein Fall verhandelt werden – der definitiv Fragen aufwirft, der polarisiert, der spaltet. Obwohl – oder gerade weil – jetzt noch ein Prozesstag folgt stehen aber zwei Dinge schon jetzt fest: das Thema wäre im Bundestag wesentlich besser aufgehoben, als vor einem Amtsgericht und, egal welches Urteil später verkündet wird, moralischer Verlierer ist ein Lahnsteiner Warenhaus. Vor Gericht stehen die beiden Studenten Julia und Nils, bekennende Klimaaktivisten aus Passion – wegen gemeinschaftlich begangenem Hausfriedensbruch, weil sie in das , umzäunte Globus-Mülllager eingedrungen sein sollen. Um „Lebensmittel zu retten“, sagen die einen – um „Lebensmittel“ zu klauen, behaupten andere.

Was ist überhaupt passiert?

Am 4. Juli 2021, einem Sonntag, bemerkt eine Nachbarin des Globus, dass mindestens ein Mensch auf einer erhöhten Position am Globus zu sehen ist, ein weiterer steht mit einem Fahrrad auf dem leeren Parkplatz. Ob der gesichtete Mensch auf dem Dach eines Anbaus, auf einem Container, einem Zaun, einer Mauer oder einem LKW steht, bleibt – wie so vieles an diesem Prozesstag – unklar. Klar ist für die damals 85-Jährige „normal ist das nicht“, also informiert sie die Polizei. Die rückt auch sofort mit zwei Beamten im Streifenwagen an und stellt die beiden jetzt Angeklagten am, bzw. im Müllager. Personalien werden aufgenommen, „Lebensmittel“ werden sichergestellt und später sogar wieder dem Globus übergeben. Welche Lebensmittel und welche Menge davon, beschäftigt das Gericht jetzt wesentlich länger, als im Terminplan vorgesehen.

Was ist der Vorwurf?

„Gemeinschaftlich begangener Hausfriedensbruch“ lautet die Anklage. Ein Delikt, das nur auf Antrag des „Geschädigten“ verhandelt wird. Das Lahnsteiner Warenhaus musste die beiden Studenten also aktiv anzeigen. Ob und durch wen das überhaupt passiert ist, bleibt, sie erraten es wahrscheinlich schon, unklar. Obwohl die Polizei auch einen Diebstahl aufnimmt, ist der (zurzeit) nicht Gegenstand des Verfahrens. Trotzdem ist der Streitwert Thema in den Zeugenvernehmungen: einer der beiden Polizeibeamten, die im Juli vergangenen Jahres gerufen wurden, protokolliert: „Lebensmittel im Wert von 10 bis 15 Euro“. Lebensmittel, die „abgeschrieben“, also steurlich verwertet, in Mülltonnen zur endgültigen Entsorgung gelagert werden. „Haben die überhaupt noch einen Wert?“ – darf hier wohl berechtigt gefragt werden, müsste aber eigentlich gar nicht, denn die Richterin am Lahnsteiner Amtsgericht schlägt nach der Feststellung der Personalien und der Verlesung zweier klimapolitischer Erklärungen vor, das Verfahren einzustellen.

Wie verlief der Prozess?

Turbulent. Schräg. Unterhaltsam. Verwirrend. Die oben erwähnte Einstellung des Verfahrens (wegen politischer Motivation in Verbindung mit Geringfügigkeit) lehnt die Staatsanwältin ab. Sollte das Verfahren wegen Hausfriedensbruchs eingestellt werden, müsse sie ein neues Verfahren wegen des Diebstahls eröffnen. Es folgt eine Diskussion in den Tiefen des Strafgesetzbuches, die damit endet, dass der Prozess eben nicht endet. „Noch ist ja hier gar nichts bewiesen – und ich glaube auch, dass sie sich damit schwer tun werden“, so die Anwältin des Angeklagten. Insgesamt sitzen übrigens gleich drei Verteidiger am Tisch der Verteidigung. Der Angeklagte Nils K. hat sich eine Anwältin genomen, die Angeklagte Julia K. setzt auf so genannte Laienverteidiger, zwei junge Frauen aus dem Bekanntenkreis der Angeklagten, die nach Verlesung langer Anträge auch durch das Gericht bestellt werden und im Verlauf des Prozesses erstaunliche Präsenz, Vorbereitung, Motivation und Kenntnis an den Tag legen.

Aus dem Umfeld der Angeklagten sind übrigens zahlreiche Unterstützer vor dem Amtsgericht und im übervoll besetzten Gerichtssaal vertreten. Rein darf dort lange nicht jeder, die zahlreich erschienen Pressevertreter haben Vorrang. Vor dem Amtsgericht laufen schon eine Stunde vor und während der gesamten Verhandlungen lautstarke Proteste und sogar Gegenproteste, von nach eigenen Aussagen „ganz normalen Lahnsteiner Bürgern“, die eine harte Verurteilung fordern. Wie und woher dieser Gegenprotest politisch motiviert ist, wird nicht beantwortet. Zurück in den Gerichtssaal: Dort steht zunächst die Vernehmung eines der beiden Polizeibeamten an, die am 14. Juli 2021 im Einsatz waren. Während und nach der Befragung durch die Laienverteidigerinnen, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Beamte sich wünschen würde, an diesem Sonntag nicht auf dem Dienstplan gestanden zu haben. Nach seiner Vernehmung sind mehr Fragen offen, als davor. Auch die Staatsanwältin korrigiert danach den Wert der aufgefundenen Lebensmittel auf „2 bis 6 Euro“ nach unten. Was es für Lebensmittel waren bleibt völlig unklar – „wahrscheinlich ein ,Bund‘ Bananen und ein ,Bund‘ Tomaten“ – was immer das auch sein soll. Den Wert habe der Beamte nach üblichen Verkaufspreisen geschätzt – allerdings seien die Lebensmittel schon in einem eher schlechten Zustand gewesen, die Bananen braun.

Auch die Anruferin aus der Nachbarschaft wird vernommen, dann macht die vorsitzende Richterin den nächsten Versuch: Einstellung gegen „überschaubare Auflagen“ – gegen eine Zahlung von 20 bis 50 Euro würde das Verfahren eingestellt, keine Eintragung ins Führungszeugnis würde erfolgen. Da würde diesmal auch die Staatsanwältin mitgehen. Es folgt eine hitzige Diskussion zwischen Anklage und Verteidigung, Ordnungsrufe an die Zuschauer, Vorwürfe und Gegenvorwürfe, die Gesprächskultur betreffend. Schließlich lehnt die Verteidigung „das Angebot“ nach einer kurzen Unterbrechung ab, da „noch nicht einmal Grundsätzliches bewiesen sei“.

Jetzt werden weitere Zeugen geladen, in zwei Wochen wird weiterverhandelt.

Kommentar:

Da ist die Politik gefragt – nicht die Gerichte

Mal dahingestellt, ob die beiden Studenten überhaupt Hausfrieden gebrochen oder irgend etwas entwendet haben könnten: es ist ein Witz, dass sich die Polizei, die Staatsanwaltschaft und ein Gericht mit einem Fall beschäftigen müssen, bei dem es um Müll geht. Weggeworfene, abgeschriebene, nicht mehr verkaufbare Lebensmittel, die offenbar noch zu schlecht zur Spende an die Tafeln sind – denn das macht der Globus ja löblicherweise, wie viele andere Supermärkte auch. Schon die verbliebenen 2 bis 6 Euro Warenwert sind lächerlich, aber die Frage muss erlaubt sein: gibt es überhaupt noch einen Warenwert, wenn – steuerlich wirksam – abgeschrieben wurde? Doch sei‘ s drum – die Frage setzt noch weit vorher an. Darf das Retten von Lebensmitteln eine Straftat sein? Die europäischen Nachbarn sind da weiter. In Frankreich zum Beispiel ist das Wegwerfen von Lebensmitteln verboten, es muss gespendet werden. Warum übernehmen wir europäische Ideen gefühlt nur dann, wenn sie weitere Einschränkungen bringen? So wurde bis 2009 durch die EU der Krümmungsgrad von Gurken auch in Deutschland geregelt und bis heute ist definiert, dass eine Banane der Handelsklasse I mindestnes 14 Zentimetern lang und mindestens 2,7 Zentimeter dick sein muss. Warum regelt man nicht einfach auch, wann die Banane eben gar keine Handeslkalsse mehr angehört? Warum hört man nicht einfach mal in die Nachbarländer und schaut, ob sich Regelungen als sinnvoll erweisen?

Aber der Globus könnte hier auch durchaus selbst handeln und beispielhaft vorangehen. Warum nicht gekühlte Lebensmittel-„Müll“tonnen für Bedürftige und Interessierte zugänglich machen? Der Angeklagte hat in seiner Erklärung vor Gericht die Globus-Webseite zitiert. Da heißt es bei der Beschreibung der Unternehmensphilosophie:

Was bedeutet es, bewusst zu leben? Welcher inneren Motivation Sie auch folgen, Globus ist stets Ihr Partner für die Realisierung eines bewussten Lebens. Wir haben uns seit jeher dem bewussten Leben verschrieben. Nur so konnten wir uns (…) zu dem entwickeln, was wir heute sind: ein moderner Marktplatz, der sich (…) mit der Gesellschaft als Ganzes verbunden fühlt. Immer auf Augenhöhe mit unseren Kunden, (…) scheuen wir an keiner Stelle den kritischen Dialog und beziehen eindeutig Position auch zu ungemütlichen Themen. Persönlich und digital. Jederzeit! (…) Bewusst Leben mit Globus ist eine Geisteshaltung, die wir mit Kunden, Mitarbeitern und Partnern, aber auch der Gesellschaft teilen möchten – gestern, heute und morgen! Bewusst leben ist der Mittelpunkt all unseres Handelns.Webseite www.globus.de/bewusst-leben

Diese Selbstbeschreibung passt aber in keinster Weise zur Strafanzeige von Lebensmittelrettern – wer den „kritischen Dialog sucht“ und das bewusste Leben „in den Mittelpunkt allen Handelns stellt – der sollte wenigstens mit den jungen Leuten sprechen – Julia und Nils haben das versucht, der Globus hat abgelehnt.

Quelle: Internetseite https://www.globus.de/bewusst-leben, die Verwendung des Screenshots ist als Illustration und Dokumentation für die jounalistische Berichterstattung notwendig.