Hilfsbedürftige im Rhein-Lahn-Kreis von jetzt auf gleich ohne Betreuung – was wusste die Kreisverwaltung?
Rhein-Lahn | 29. Mai 2022 | (ww). Seit Jahren gibt es immer wieder Gerüchte, offene Fragen, mindestens seltsame Vorgänge und Skandale rund um die Lebenshilfe Rhein-Lahn. Nach der Durchsuchung und Verhaftung des Geschäftsführers im Dezember, der folgenden Insolvenz und jetzt der extrem kurzfristigen Entlassung von über 80 Mitarbeitern der gGmbH stellt sich die Frage: Wie geht es weiter bei der Lebenshilfe Rhein-Lahn? Für viele Menschen im Rhein-Lahn-Kreis hat diese Frage eher untergeordnete Bedeutung. Für die 82 (Ex-)Beschäftigten, ihre Familien, aber vor allem für die von ihnen Betreuten, teilweise schwerst beeinträchtigten Menschen und deren Familien ist die Frage existenziell.
Ein verlängertes Wochenende und zwei Arbeitstage bis zum “Aus”
Am vergangenen Mittwochnachmittag gab es eine Betriebsversammlung. Das Insolvenzverfahren für die gGmbH sei gescheitert, teilt Verwalter Jens Lieser den Beschäftigten mit. Sie alle (bis auf zwei, die die verfahrenstechnisch korrekte Insolvenzabwicklung begleiten) seien zum 1. Juni arbeitslos – ein verlängertes Wochenende und zwei Arbeitstage liegen zwischen der knappen Information und dem Ende einer Berufung, die man wahrlich nicht platt als „Job“ bezeichnen kann. Doch noch viel schlimmer wiegt die Betroffenheit „am Ende der Nahrungskette“, bei den Menschen im Rhein-Lahn-Kreis die auf Hilfe nicht nur angewiesen sind, sondern schlichtweg ohne Hilfe nicht klarkommen. Sie, die behördlich bestätigt, einen Anspruch auf Hilfe haben, stehen nun nach fast zweieinhalb schwierigen Pandemiejahren, vor dem kompletten Lebens-Kollaps. Die Letzten beißen die sprichwörtlichen Hunde…
Drei Beispiele für 106 Schicksale
Um das Leid, das die im Insolvenzrecht „Betriebseinstellung der gGmbH“ genannten Pleite, die eigentlich gar keine ist (siehe Kommentar), zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, was die 82 Mitarbeiter bislang zum Mindestlohn oder knapp darüber geleistet haben. Eine junge Frau etwa betreute einen Jungen in der sechsten Klasse, der durch eine psychische Störung extrem selbst- und fremdgefährdend ist. Lediglich das Vertrauen in und die Anwesenheit der Integrationskraft der Lebenshilfe, wirkt beruhigend auf ihn und macht ihn wieder „beschulbar“ – ausgebildete Lehrkäfte waren rettungslos überfordert, auch wegen anderer Aufgaben. Aber nicht nur in ihren bezahlten 23 Stunden steht die „I-Kraft“ dem Jungen und der Familie zur Seite – die Bindung ist so stark geworden, da ruft die ebenfalls oft überforderte Mutter auch nachts mal an. „Natürlich fährt man da los – ich weiß ja, dass er auf mich positiv reagiert und dann wieder `runterkommt`“, erzählt sie am Freitag bei einem Treffen von einigen, bald ehemaligen Mitarbeitern mit 56aktuell.
Noch nicht verständlich genug? Eine weitere mit 16 Euro Stundenlohn „höher bezahlte Fachkraft“ kümmert sich um einen autistischen Jungen, der jetzt kurz vor dem Abitur steht. Intellektuell hat er keine Probleme dem Unterricht zu folgen – alles andere aber bereitet ihm Probleme. Mit der „I-Kraft“ blühte der Junge auf – mit dem zeitlichen Vorlauf, die der neue Mensch brauchte, um im von festen Strukturen geprägten Tagesablauf des autistischen Jugendlichen „angekommen“ akzeptiert und verankert zu sein.
Ein weiteres Beispiel nötig? Die an MS erkrankte junge Frau mit diversen Einschränkungen, die auch noch von Spastiken geplagt wird, wird noch bis Dienstag von gleich zwei Betreuern der gGmbH unterstützt – und das bedeutet im ganz normalen Tagesablauf eben auch sehr intime, körperpflegende Tätigkeiten. Die junge Frau war durch die Betreuung mittlerweile so gut „im Leben angekommen“, dass sie in rund sechs Wochen ein Kind erwartet – ohne Betreuung, ist es aber sehr wahrscheinlich, dass das bislang ungeborene Kind nicht bei der Mutter bleiben darf. Die junge Frau bricht beim Ortstermin in Nastätten in ihrem Rollstuhl mehrfach in Tränen aus.
Gesetzliche Vorgaben nicht erfüllt – Mittel gestrichen
Drei von 106 Schicksalen die zu Tränen rühren – deren Situation aber jetzt gar nicht so prekär sein müsste, wie sie ist. „Der wesentliche Grund für die Betriebseinstellung der gGmbH liegt in den öffentlich-rechtlichen Vorgaben an die Vergütungen und Verträge der Beschäftigten. Da die Vorgaben aus den vorliegenden Verträgen jedoch nicht in vollem Umfang erfüllt werden, haben die Kreisverwaltung und das Land Rheinland-Pfalz die Mittel zum Teil gestrichen“ erklärt Insolvenzverwalter Lieser am Telefon. Alle Übernahmegespräche, zuletzt mit der Stiftung Scheuern, seien gescheitert, die Kassen jetzt leer.
Die Kreisverwaltung in Bad Ems kommentiert das nach diversen Medienanfragen anders – und widerspricht sich noch in der sehr knappen Antwort:
„Die Kreisverwaltung steht im Kontakt mit anderen Anbietern, um eine Versorgung der Klienten sicherzustellen“, heißt es von Seiten der KV. Am Montag soll es ein Gespräch in der Kreisverwaltung geben, bei dem Lösungen gefunden werden sollen. Allerdings nicht mit den Mitarbeitern der Lebenshilfe – wie das dann allerdings in der Betreuung funktionieren soll, wo die oben genannten Fälle sicherlich schlüssig die Wichtigkeit eines gewachsenen Vertrauensverhältnisses beweisen, bleibt mehr als fraglich. Warum man gerade jetzt (acht Wochen vor den Ferien und innerhalb nur weniger Tage) nachdem die Insolvenz spätestens seit Anfang des Jahres absehbar war, die Notbremse ziehen muss um eventuell Überzahlungen zu prüfen, die im Zusammenhang mit den mutmaßlichen Veruntreuungen stehen könnten, wirkt gelinde gesagt wie eine Ausrede.
56aktuell liegen diverse schriftliche Belege und Aussagen vor, dass die Kreisverwaltung Rhein-Lahn bereits in den Jahren 2018, 2019 und 2020 über die Vorgänge bei der Lebenshilfe informiert war. Zu einer Überprüfung oder auch auf den Weg in eines der öffentlichen Gremien hat dies – wo Schaden noch abzuwenden war – nie geführt. Im Jahr 2019 gab es sogar eine Mitgliederversammlung des Lebenshilfe e.V., bei der damals schon existierende Missstände offen diskutiert und benannt wurden und an der Landrat Frank Puchtler persönlich teilgenommen hat. Von dieser Mitgliederversammlung existieren vier (!) unterschiedliche Protokollvarianten – bis zur dritten Variante enthält das Protokoll die Schlussbemerkung, dass der Vorstand NICHT mehr handlungsfähig ist. In der endgültigen Variante fehlt der Hinweis. Dieser prekäre Vorhalt und die Tatsache, dass es vor und sogar während der Sitzung zu herben Vorwürfen und Rücktritten kommt, führt in der Kreisverwaltung aber drei Jahre lang nicht zu Prüfungen, die jetzt innerhalb von Tagen zwingend vorliegen sollen. Kurz nach der Versammlung gab es ein Gespräch von mittlerweile ebenfalls ehemaligen Angestellten der Lebenshilfe und Eltern mit Vertretern der Kreisverwaltung, des Kreis – und des Landesjugendamtes zu diesen Vorwürfen – ebenfalls ohne Auswirkungen oder Bedingungen für weitere Zahlungen.
„Während des Insolvenzverfahrens wurden die Zahlungen entsprechend der vom Insolvenzverwalter nachgewiesenen Kosten vollständig ausgezahlt. (…)Anfang des Jahres hat das Landesamt mitgeteilt, dass die Personalkosten für den Zeitraum von 2018 bis heute nicht erstattet werden, da Anhaltspunkte bestehen, dass keine ordnungsgemäße Verwendungsnachweise vorliegen. Es wurden keine Zahlungen eingestellt. Die Kreisverwaltung zahlt an die Lebenshilfe Leistungsentgelte für erbrachte Leistungen. Demnach wurden alle nachgewiesenen und schlüssigen Leistungen nach der Leistungsvereinbarung ausgezahlt“, heißt es in der Antwort der Kreisverwaltung auf Mediennachfragen weiter. Dass im ersten Satz von „vollständiger Auszahlung“ die Rede ist, es später heißt „es wurden keine Zahlungen eingestellt“, am Ende aber bestätigt wird, nur für „schlüssige Leistungen“ ausgezahlt zu haben, dürfte nicht nur Germanistikstudenten auffallen.
Konkret gehen die Noch-bis-Dienstag-Beschäftigten gGmbH-Mitarbeiter beim Treffen in Nastätten auf den Vorhalt der fehlenden Verwendungsnachweise ein. „Wir haben uns nichts zu Schulden kommen lassen. Und die Familien der Betreuten, sowie die Schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft, die Betreuten, schon gar nicht. Im Gegenteil – zwischenzeitlich sollten wir lückenlose Zeitnachweis-Protokolle über unsere Tätigkeit führen. Das haben wir dann gemacht, da hieß es von Seiten der Kreisverwaltung: „Na sooo ausführlich wollten wir das aber auch nicht, schreibt mal wieder weniger“. Ob und wie eine solche Protokollführung in der komplizierten Tätigkeit der Betreuer und I-Käfte überhaupt Sinn machen kann ist fraglich. Ist das Beobachten eines verhaltensauffälligen Jugendlichen aktive Arbeitszeit? Ist der Biss in das mitgebrachte Brötchen während der Betreute Frühstück macht Pausenzeit? Ist das nächtliche Telefongespräch mit der Bezugsperson, damit der Betreute wieder einschlafen kann Stundenzettel-Fähig?
Alles das stellen die Integrationskräfte, Haushaltshilfen und Betreuer bei dem Treffen am Wendehammer der Nastätter Industriestraße sowieso nicht in den Vordergrund. Alle (!) sind sogar bereit zunächst unentgeltlich für ihre Schützlinge weiter da zu sein, doch das ist versicherungsrechtlich nicht möglich und wurde ihnen untersagt. Einige werden es trotzdem tun – damit es eben nicht die Schwächsten sind, die nachher alles ausbaden müssen.
Kommentar des Verfassers: Hört auf zu klatschen und lasst Taten folgen!
Warum die Kreisverwaltung, namentlich und allen voran, Landrat Frank Puchtler und dessen Vertreterin Gisela Bertram, die nach allen vorliegenden Hinweisen seit Jahren persönlich informiert waren, keinerlei erkennbare Konsequenzen gezogen haben, muss hinterfragt werden. Später. Jetzt gilt es zu handeln – für die Schwächsten unserer Mitbürger. Sich jetzt auf Überprüfungen zum Schutz vor Überzahlung durch den Steuerzahler zu berufen, mutet lächerlich und verhöhnend an. Vor allem, da die Bewilligungsscheine für die Leistungen vorliegen. Übrigens zu einem deutlich höheren Stundensatz, als er bei den I-Kräften und Betreuern ankommt. Jetzt Verträge für eine Institution zu bemängeln, für deren Genehmigung man selbst vor Jahren zuständig war, belegt entweder eigenes Versagen oder mangelnde Führung. Wie konnten jahrelang hunderttausende Euro an öffentlichen Mitteln ohne Prüfung aufgewendet werden, wenn die gleiche Verwaltung Mitgliedsbeiträge von Kommunen für Fördervereinen in Kindergärten in Höhe von 50 Euro rügt?
Eventuell sollte man wirklich mal aufhören für die Pflegeberufe zu klatschen und endlich Taten folgen lassen. Wenn man trotz Überschuldung Künstlerhäuser weiter im fünftstelligen Bereich unterstützen kann, oder 55 tausend Euro jährlich für den Zweckverband Welterbe Oberes Mittelrheintal aufwenden darf, wenn man die Abriss- und Entsorgungskosten eines (laut Gerichtsurteil) unbeabsichtigt gesprengten Hauses übernehmen kann, und wenn man auch noch Mittel und Wege findet, eine nicht förderungsfähige Bushaltestelle zu finanzieren, dann sollte es doch verdammt nochmal möglich sein, eine Lösung für ein existenzielles Problem von fast 200 Familien (!) im Kreis zu finden, dass die Betroffenen noch nicht mal selbst verschuldet haben. Meiner Meinung nach hat der Kreis dazu die moralische Verpflichtung – gerade weil er bisher (noch freundlich formuliert) weggesehen hat. Willi Willig