Lahnstein. Die Bundesstelle für Eisenbahnuntersuchungen hat heute einen Bericht zu den Ursachen des Zugunglücks im Niederlahnsteiner Bahnhof am 30. August 2020 veröffentlicht. Danach sind drei Faktoren zusammenwirkend für das Unglück ursächlich: überhöhte Geschwindigkeit, eine falsche technische Einstellung (gewählte Zugart) und der Zustand der Gleisinfrastruktur im Niederlahnsteiner Bahnhof., bzw. die Streckenführung über mehrere Weichen. Allerdings wurde lediglich ein nach Jahresfrist (am kommenden Montag jährt sich das Unglück zum ersten Mal, die Red.) vorgeschriebener Zwischenbericht veröffentlicht. Die unzweifelhaft festgestellte Geschwindigkeitsübertretung durch den bereits verurteilten Lokführer „hat nicht alleine zu dem Unglück geführt. Da haben alle genannten Faktoren zusammengewirkt. Das muss weiter wissenschaftlich untersucht werden. Das dauert mindestens noch einmal ein halbes Jahr“, so ein Mitarbeiter der BEU-Pressestelle gegenüber 56aktuell.
Rückblick: Was ist passiert?
Am Sonntag, 30.August 2020 gegen 18:35 Uhr entgleiste ein mit Dieselkraftstoff beladener Kesselwagenzug
auf der Fahrt von Rotterdam nach Basel im Bahnhof Niederlahnstein. Bei dem Unfall waren mehrere mit Diesel beladene Kesselwagen entgleist und ausgelaufen. Rund 180.000 Liter Kraftstoff gelangten so ins Erdreich. Nur etwa die Hälfte davon konnte in den darauffolgenden Wochen durch Ausbaggern wieder aus dem Boden entfernt werden. Rund 90.000 Liter sind, wie die Bahn Monate nach dem Unglück einräumte, noch im Erdreich. Sie stellen aber durch angelegte überwache Tiefbrunnen und die geologischen Gegebenheiten laut Bahn keine Gefahr für das Grundwasser dar. Das bezweifeln Bürgerinitiativen, Anwohner und die lokale Politik.
Warum dauern die Untersuchungen so lange?
Die Mühlen der BEU arbeiten langsam, aber stetig. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich Untersuchungen zu solch komplexen Unfällen lange hinziehen. Auffällig ist jedoch, dass der Zwischenbericht erst zwei Arbeitstage vor Ablauf der Frist veröffentlicht wird – in den gesetzlichen Bestimmungen ist diese Frist ja auch nur „mindestens zum Jahrestag“ gefordert. Allerdings zeigen die Zwischenergebnisse, dass die Faktoren, die zum Unglück führten in komplizierten Wechselwirkungen stehen, umfassende Untersuchungen dazu erfordern Zeit. Unmittelbar nach dem Unglück gab es – vor allem aus „Bahnkreisen“ – massive Kritik an Spekulationen zur Unfallursache. Dass der Zwischenbericht diese nun im wesentlichen bestätigt, bleibt unkommentiert.
Warum ist der Lokführer denn dann schon verurteilt?
Es deutete früh sehr viel auf ein Fehlverhalten des Lokführers hin. Aus diesem Grund hatte das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) dem Mann bereits im Oktober 2020 mit sofortiger Wirkung die Berechtigung zum Führen von Triebfahrzeugen entzogen. Das wollte der Mann nicht akzeptieren. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) in Nordrhein-Westfalen bestätigte Anfang März 2021 eine frühere Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln, dass die Entziehung des Führerscheins rechtmäßig war. Dem Lokführer fehle es an der erforderlichen Zuverlässigkeit, so das OVG. Durch erhebliche bzw. wiederholte Geschwindigkeitsverstöße habe er sich als unzuverlässig erwiesen. Der Mann soll zudem mehrmals „Selfie-Videos“ mit dem Handy während der Fahrt aufgenommen haben, obwohl sachfremde Nebentätigkeiten zu unterlassen sind. Auch am Unfalltag des 30. August 2020 – kurz vor der Entgleisung – war er zudem mit 62 km/h statt der zulässigen 40 km/h in den Weichenbereich des Bahnhofs Niederlahnstein eingefahren. „Eine derartige Verhaltensweise ist mit der sicherheitsrelevanten Verantwortung eines Triebfahrzeugführers nicht zu vereinbaren“, so das OVG. Dabei wiege besonders schwer, dass der Lokführer mit dem Transport von Gefahrgütern betraut war und ihn deshalb eine nochmals gesteigerte Verantwortung für einen sicheren Verlauf der Zugfahrt traf.
Was sagt der Zwischenbericht der BEU im Wortlaut und was bedeutet das?
Unter dem Punkt „Identifizierte Sicherheitsprobleme“ führt der Bericht vier Faktoren auf, die in der Verbindung für das Unglück verantwortlich sind, jetzt aber noch eingehender untersucht werden sollen:
- Entgegen den Vorgaben im Fahrplan und der örtlichen Signalisierung am Zwischensignal S105 befuhr der DGS 49077 (der später entgleiste Güterzug, die Red.) die Gleisverbindung Weiche 35 – Weiche 18 mit 62 km/h anstatt der signalisierten 40 km/h. Im Klartext bedeutet das: der Zug war bei der Einfahrt zum Unfallort mit einer, um mehr als die Hälfte (55 Prozent) erhöhten Geschwindigkeit unterwegs.
- In der PZB‐Fahrzeugeinrichtung war entgegen den Vorgaben der Einstelltabelle die Zugart „M“ eingegeben. Dadurch betrug die Überwachungsgeschwindigkeit (…) 70 km/h statt 55 km/h in der vorgeschriebenen Zugart „U“. Im Klartext bedeutet das: technische Sicherheitseinrichtungen konnten nicht im erforderlichen Umfang eingreifen.
- Im Verlauf der Unfalluntersuchung wurde festgestellt, dass der Tf (Tf=Triebfahrzeugführer, oben Lokführer genannt. die Red.) (…) die fahrplanmäßige Höchstgeschwindigkeit (…) von 90 km/h zwischen Köln und Koblenz mehrfach und anhaltend um bis zu 17 km/h überschritten habe. Im Klartext bedeutet das: der Lokführer hat sich auch schon vorher nicht an Geschwindigkeitsbegrenzungen gehalten.
- Im Fokus weiterer Untersuchungen liegen die Infrastrukturanlagen im Bahnhof Niederlahnstein. Die Trassierung der vom Unfallzug befahrenen Gleisverbindung Weiche 35 – Weiche 18 beinhaltete einen Gleisbogen mit Radius r=150 m. Die Entgleisungsstelle lag im Bereich dieses Gleisbogens. Die von der BEU nach der Entgleisung veranlasste belastete Messung des Oberbauzustands der Gleisverbindung ergab zudem mehrere Richtungsabweichungen von der Solllage. Im Klartext bedeutet das: die Streckenführung – die rund um das Ereignis viel diskutierte „Entrostungsfahrt“ über mehrere Weichen statt einfach geradeaus spielt durchaus eine Rolle UND das Schienennetz der DB hatte zumindest Mängel.
Quelle: Zwischenbericht EBU und eigene Recherche