Hahnstätten | 4. September 2024. Der letzte Augustsonntag war ein schöner, sonniger Tag. Am Vorabend gab es sommerliche Gewitter mit teilweise starkem Regen und kräftigem Wind. Das ist am Sonntagnachmittag gegen 14.50 Uhr fast schon wieder vergessen, als Tobias Schümann sich mit Lebensgefährtin Jacqueline und der gemeinsamen sieben Monate alten Tochter, in Hahnstätten ins Auto setzt, um nach Singhofen zu fahren. Das Ziel des Sonntagnachmittags-Ausflugs: ein Wasserfall an einem Wanderweg – ein ideales Ausflugsziel für diesen schönen, nicht zu heißen Sonntagnachmittag.
Die kleine Familie fährt die „Schliem“ – so wird die B274 im Volksmund genannt – in Richtung Katzenelnbogen. Doch schon kurz hinter dem Hahnstätter Ortsschild ist die Sonntags-Idylle vorbei. Minuten zuvor ist es zu einem schweren Motorradunfall gekommen. „Wieder einmal“, sagen viele Einheimische. Die „Schliem“ ist in der Motorradszene beliebt, leider auch bei einem gefährlichen Teil der Szene, den hochrisikobereiten Rasern. Anders lässt sich das Verhalten aus Sicht vieler Anlieger nicht mehr beschreiben. Doch dazu später mehr. Zurück zu Tobias, der die nächsten Stunden dieses Nachmittags in einer bewegenden, sehr offenen und detailreichen Schilderung festgehalten und auf Social Media veröffentlicht hat.
Ein ernst gemeinter Hinweis an dieser Stelle: wer Probleme mit den Themen Sterben und Tod hat, sollte jetzt nicht mehr weiterlesen. Es folgt eine sehr detaillierte Schilderung der, leider letztlich vergeblichen, Bemühungen zur Rettung eines Menschenlebens!
Tobias hat seine Schilderung mit dem Titel „Der 25.August – dein leider letzter Tag auf dieser Welt“ überschrieben – und wendet sich in dem Text persönlich an das Unfallopfer.
Nach rund einem Drittel der Strecke kommt uns ein Motorrad entgegen. Der Fahrer signalisiert „langsam fahren“. Ich sage noch zu Jacqueline: „Die Polizei wird bestimmt kontrollieren“. Das macht bei der Raserei der Motorräder, und extra nur noch deswegen erlaubten 70 Km/h, auch Sinn. Jedes Wochenende seit Jahren Krankenwagen, Verletzte, Schwerverletzte und auch Tote. Doch es kommt anders, es ist keine Kontrolle. Vor der nächsten Rechtskurve stehen drei Autos mit Warnblinkern. Ich halte an, Frau und Baby bleiben im Auto. Ich bin nicht weit von der Unfallstelle weg, er kann noch nicht lange her sein. Ich sehe dich nach kurzen Schritten auf der anderen Fahrbahn talabwärts an der Leitplanke liegen. Wut steigt in mir auf, schon wieder einer, schon wieder ausgerechnet ich als Ersthelfer vor Ort. Wann hört dieser Wahnsinn hier endlich auf? Zurückgehen oder umdrehen kommt natürlich nicht in Frage. Ich will dir helfen, du wirst alle Hilfe und noch viel mehr benötigen.
Tobias bringt alles mit was ein Ersthelfer brauchen kann. Seit Kindertagen ist er Teil der Blaulichtfamilie. Einstieg in der Jugendfeuerwehr, später lange Jahre in der Freiwilligen Feuerwehr Hahnstätten, 2011 hat er das Hobby zum Beruf gemacht und steigt in die väterliche Firma für Brandschutz und Sicherheitstechnik ein. Der Feuerwehr bleibt er als Ausbilder erhalten, für den aktiven Dienst fehlt ganz einfach die Zeit. Alles, was er in zahlreichen Erste-Hilfe-Kursen als Ehrenamtler gelernt hat, wird er an diesem Nachmittag brauchen.
Es stehen einige Leute an der Unfallstelle, junge, ältere, eine Frau ist direkt bei dir. Eine weitere telefoniert. Später stellt sich heraus, die Frau am Handy und Ihre Schwester (beide waren mit Motorrädern unterwegs) hast du noch waghalsig in der Kurve vor dem Unfall überholt. Sie hatten dabei Angst und mussten dann direkt mit ansehen, wie du vom Motorrad in die Leitplanke geflogen bist und deine leere Maschine in ein bergab fahrendes Auto eingeschlagen ist. Zum Glück ist dort nicht auch noch jemandem etwas Ernsthaftes passiert. Direkte Unfallzeugen gibt es genug, alle Aussagen decken sich. Es ist für uns wichtig, zu wissen was passiert ist, damit wir keine Fehler machen.
An der professionellen Herangehensweise in der Schilderung, zum Beispiel bei den Fragen nach dem Unfallhergang, zeigt sich die Feuerwehr- und Ersthelfererfahrung deutlich. Das wird auch im weiteren Verlauf seines niedergeschriebenen „Gesprächs“ mit dem Unfallopfer immer wieder klar.
Du wirst sofort in die stabile Seitenlage gebracht. Wir sprechen mit dir, ermutigen dich bei uns zu bleiben! Als freiwilliger Feuerwehrmann und beruflich habe ich viel gesehen, das notwendige Programm wird nun in mir automatisch abgespult. Ich frage, wer medizinische Kenntnisse hat, die Frau bei dir ist Arzthelferin, das ist gut. Der Notruf wurde abgesetzt, das Handy ist auf Lautsprecher und der Leitstellendisponent gibt Anweisungen. Es ist unheimlich wichtig beim Notruf in der Leitung zu bleiben. Dein Helm wird abgezogen, das Visier ist beim Unfall in einem Stück abgerissen. Schnell wird klar, es sieht sehr schlecht aus um dich. Du atmest nicht, deine Augen rollen, wir müssen dich sofort reanimieren. Um deine Kleidung zu öffnen, brauchen wir ein Messer, ich renne zum Auto zurück und hole es. Als ich zurückkomme, reanimiert dich die Arzthelferin, deine Jacke ist geöffnet und zu den Seiten geklappt. Es ist außerhalb von Erste-Hilfe-Kursen meine erste Reanimation. Wir ziehen dich gerade auf die Straße, wir brauchen jetzt einen festen Untergrund. Ich übernehme die Reanimation. 30x pumpen, 2x beatmen.
Deswegen, zum Beispiel, meint Tobias im Gespräch mit 56aktuell, ist es so wichtig am Telefon zu bleiben. Bei den meisten „normalen“ Ersthelfern (also nicht immer wieder weiter ausgebildeten Mitgliedern der Blaulichtfamilie) stammt das theoretische Wissen noch aus den Voraussetzungen für den Führerschein und ist oft Jahrzehnte alt. Heute wird anders reanimiert, als es auch der Autor dieses Beitrags noch gelernt hat. Der Schwerpunkt der Ersthelfer-Reanimation liegt nach aktueller Lehre auf dem Pumpen, Blut muss durch den Kreislauf, Beatmung sei zweitrangig, habe der Disponent der Leitstelle auch am Telefon ruhig und sachlich erklärt, berichtet Tobias. „Oft haben Leute Angst vor dem Beatmen wegen möglicher Ansteckungsgefahr oder einfach auch nur aus Ekel, das kann man niemandem übelnehmen“, ergänzt Tobias. An diesem Sonntag auf der „Schliem“ war das anders.
Ein Mann übernimmt den (Beatmungs-)Job direkt. Deine Lunge füllt sich dabei mit viel Luft. Beim Kompressieren sind die Geräusche nicht gut. Es klingt, als wäre in dir viel kaputt gegangen. Man sieht kein Blut an dir, aber es hört sich nach Flüssigkeit in der Lunge an. Du lebst noch, wir wollen den Kampf gewinnen und machen alles für dich, in ganz kurzen Pausen holst du röchelnd Luft. Aber wir merken, dass es mehr körperlicher Reflex ist als Bewusstsein, du driftest uns weg. Ich schaue dir immer wieder ins Gesicht, suche nach Reaktionen. Für mich ist kein Schmerz erkennbar, aber Angst, Panik. Später werde ich mich leider nicht mehr an dein Gesicht erinnern können, es war einfach keine Zeit es mir einzuprägen. Die Arzthelferin lässt mich deinen Puls tasten, ich kann nichts fühlen, wenn überhaupt nur noch minimal. Der erste First Responder vom DRK trifft ein, parallel noch ein Feuerwehrmann und Sanitäter, wir kennen uns alle persönlich und wechseln uns ab. Mit meinem Messer wird dein Funktionsshirt aufgetrennt. Der Defibrillator wird angeschlossen, in den Reanimations-Pausen wird er eingesetzt. Er zeigt leider keine durchschlagende Wirkung, wir reanimieren immer weiter. Der zweite First Responder vom DRK trifft ein. Es wird alles an Material vorbereitet. Wir schneiden deine ganz Kleidung mit Scheren auf. Du hast nur noch Socken und Unterhose an. Der RTW ist da, lange mussten wir nicht warten. Ganz kurze Besprechung mit allen Helfern. Der Hubschrauber vom ADAC wird auch gleich da sein, auch das geht schnell. Wir legen dich auf ein gelbes Spineboard, dein ganzer Körper ist schlaff, ich weiß, was das bedeutet und halte deinen linken Arm fest. Das Board kommt auf die Trage und wird mit Gurten festgezogen, alle packen mit an. Die Trage mit dir kommt in den RTW. Der Hubschrauber trifft ein.
Im nachträglichen Gespräch mit 56aktuell, ist das der Punkt, der Tobias hörbar betroffen macht. „Eigentlich war die Kombination vor Ort das Beste, was ihm hätte passieren können. Eine Arzthelferin, ein Helfer, der die Beatmung beherrscht und nicht zögert, meine ehrenamtliche Ausbildung, dazu innerhalb weniger Minuten die ehrenamtlichen First Responder, die top ausgebildet und immer sehr schnell an der Unfallstelle sind. So viele Ersthelfer, die wissen was zu tun ist, an einer Unfallstelle…deswegen ist es ja um so schlimmer, dass wir trotzdem letztlich nichts bewirken konnten.“
Einer der First Responder holt die Notärzte vom Landeplatz mitten auf der „Schliem“ mit dem Auto zum RTW ab. Wir stehen alle zusammen an der Leitplanke, alle Rettungskräfte sind bei dir im RTW. Jeder drückt dir die Daumen. Ich hebe deinen Helm auf und frage die beiden Schwestern, was das für ein Teil daran ist. Sie erklären mir, dass ihr alle Funk habt, eingestellt auf einen freien Kanal im Aartal. Jeder kann jeden hören und sich so auch vor Kontrollen warnen. Als du gestürzt bist, haben Sie dich röcheln hören. Die Polizei trifft ein. Der RTW geht nach einigen Minuten auf. Drei der Sanitäter steigen aus und ziehen mit hängenden Köpfen Ihre Handschuhe aus. Scheiße, Gott verdammte Scheiße!
Gefasst spricht Tobias in unserem Gespräch über den Moment, in dem klar wurde, dass ihre Bemühungen trotz geballter Kompetenz nicht zum Erfolg führten. „Es war nicht meine erste Leiche, aber es war der erste der mir quasi unter den Händen weggestorben ist“, spricht er einen Punkt an, den Normalbürger oft gar nicht „auf dem Schirm“ haben. Bei ihren Einsätzen erleben Ehrenamtler der Blaulichtfamilie die ganze Bandbreite: Freude, wenn Besitz oder Leben gerettet werden konnten, aber auch schreckliche Bilder, wenn das eben nicht mehr möglich war. Das hat er jetzt als Ersthelfer erlebt, abseits der langjährigen Feuerwehrtätigkeit. In seinem Facebook-Posting erklärt er seine Motivation für die öffentliche Schilderung des Erlebten, verbunden mit einem Appell:
Es ist mir wichtig hier alles aufzuschreiben, hauptsächlich für deine Angehörigen. Sie haben ein Recht darauf zu erfahren was in den letzten Minuten deines noch viel zu jungen Lebens passiert ist. Ich bin nur knapp fünf Jahre älter als du. Vielleicht bringt es aber auch noch mehr. Die „Schliem“ muss endlich für Motorräder gesperrt werden, das Verbot muss aber auch konsequent umgesetzt werden. Notfalls mit Beschlagnahmung der Maschinen bei Missachtung. Auf einer Bundesstraße die eigentlich für alle sicher sein soll, kann der völlig ausgeartete Spaß und Nervenkitzel des einzelnen niemals über dem Leid der verunfallten, Angehörigen und Helfer stehen. Die Situation ist schon seit Jahren unzumutbar, gleiches gilt für die fadenscheinigen Ausreden der Politik im Hinblick auf eine mögliche Sperrung. Auf Vernunft und Eigenverantwortung zu setzen ist vollkommen misslungen. Was muss denn bitte noch passieren bis sich hier etwas bewegt? Reicht es immer noch nicht? Muss irgendwann in jeder Kurve ein Kreuz stehen? Selbst am 25. August hat die Polizei im oberen Abschnitt der „Schliem“ vor deinem Unfall sogar noch kontrolliert, gebracht hat es nicht viel. Vermutlich hätte eine Sperrung dein Leben heute gerettet. Nur darum geht es letztlich, euch und uns gemeinsam zu schützen. Die beiden Schwestern waren nach dem Unfall nicht mehr in der Lage mit Ihren Motorrädern nach Hause zu fahren, sie organisierten eine Abholung. Zusätzlich wird für Sie ein Seelsorger hinzugezogen. Gemeinsam mit ihm trinken wir später noch etwas im Kreml in Zollhaus, reden über das Erlebte. Ihre Maschinen werden von einem Sanitäter dort auf den Parkplatz gefahren. Ich laufe danach alleine und in Ruhe nach Hause. Ich fühle mich leer und erschöpft. Die Sonne scheint immer noch, der Tag ist furchtbar und wird mir für immer im Gedächtnis bleiben. In der Woche nach deinem Unfall gibt es erneut zwei Unfälle. Es geht einfach so weiter als wäre nichts gewesen. Es tut mir wahnsinnig leid, dass ich dir nicht helfen konnte. Es tut mir leid für deine Angehörigen.
Mit seinem Appell ist Tobias Schümann bei Weitem nicht alleine. Anlieger und Anwohner der „Schliem“ berichten immer wieder davon, dass sie zur Raserstrecke geworden ist. Es gilt in der oben angesprochenen Szene als cool, die Strecke mit möglichst hoher Geschwindigkeit zu durchfahren, die Zeit zu stoppen und sich dabei auch noch zu filmen. Auf der Strecke werden extremste Geschwindigkeiten gefahren, vor Polizeikontrollen warnt sich die Szene, wie oben beschrieben, per Funk oder WhatsApp-Gruppe. „Das sind bei weitem keine Minderheiten oder Einzelfälle. Auf der „Schliem“ sind ganze Gruppen unterwegs, die treffen sich auf den Parkplätzen, das kann jeder hören und sehen. Jedes Wochenende. Ich werde die Strecke noch oft fahren, zum Beispiel mit der Kleinen auf dem Weg zu den Großeltern. Und ich möchte sie ohne Angst fahren“, schließt Tobias Schümann im persönlichen Gespräch.
Wenn der Unfall des 34-jährigen Motorradfahrers aus dem Wetterau-Kreis am 25. August jetzt mit dazu führen würde, dass der Wahnsinn auf der „Schliem“ ein Ende findet, dann wäre der Einsatz von Tobias und den anderen Erst- und professionellen Helfern doch nicht ganz vergebens gewesen.
Willi Willig