Kördorf / Singhofen / Rhein-Lahn | 13. September 2023 | (ww). Greta ist 9 Jahre alt. Unheimlich gern besucht sie die 3. Klasse der Erich-Kästner-Schule im 12 Kilometer entfernten Singhofen. Da Greta aufgrund eines sehr seltenen Gendefekts unter anderem Epileptiker ist sowie autistische Züge aufweist, ist sie auf eine spezielle Schülerbeförderung angewiesen. Das hat schon zu Kindergarten-Zeiten und auch in den ersten beiden Schuljahren prima funktioniert. Doch dann hat die zuständige Kreisverwaltung in Bad Ems die Beförderungsleistung neu ausgeschrieben. Sie ahnen schon was jetzt kommt? Der Service des günstigsten Anbieters (gemäß Ausschreibung) und die Anforderungen der meist schwerst behinderten Fahrschüler liegen weit auseinander. Das Problem liegt bei der Kreisverwaltung auf der Bad Emser Insel Silberau – anstatt schnell für Abhilfe zu sorgen, wird mit Worthülsen auf die berechtigte Kritik der Eltern reagiert. Empathie und Lösungsorientiertes Handeln? Fehlanzeige!
Um einen Eindruck für die Situation zu bekommen, fangen wir doch einfach nochmal vorne an:
Greta ist 9 Jahre alt. Unheimlich gern besucht sie die 3. Klasse der Erich-Kästner-Schule im 12 Kilometer entfernten Singhofen. Doch wenn nach den Sommerferien morgens der „Schulbus“ ein ganz anderer ist, anstatt Andreas plötzlich eine Wildfremde am Steuer sitzt und die Begleitperson auch nicht mehr Heike ist, dann kann das schon zum ernsthaften Problem werden. Hupt „die Neue“ auch noch ungeduldig, weil sie der Meinung ist, ein Elternteil habe am Haus für die Abholung bereit zustehen ist, kann das Ganze eskalieren. Ganz sicher eskaliert es, wenn Greta wirklich einmal ihr Notfallmedikament bräuchte. Denn „die Neue“ hat das gar nicht dabei – und dürfte es auch gar nicht verabreichen.
Greta hat CDKL 5. Ein Gendefekt den nur etwa 40 weitere Kinder in ganz Deutschland in sich tragen. Der Gendefekt entsteht „spontan“ während der Schwangerschaft, kann also theoretische jeden treffen. Vereinfacht ausgedrückt handelt es sich bei CDKL5 um eine Entwicklungsstörung des Gehirns, keine Verzögerung der Entwicklung, sondern eben eine Störung. Greta wird also lebenslang mit dem Hauptsymptom Epilepsie (dafür das benötigte Notfallmedikament) und den autistischen Zügen) deswegen ist eine geregelte Routine so wichtig) zu tun haben. Es gibt noch eine seitenlange Liste mit weiteren Symptomen – bei jedem Betroffenen ist CDKL5 aber anders ausgeprägt. „Greta und wir haben noch Glück gehabt“, betont ihre Mutter Jessica Kraft aus Kördorf. Greta hat, entgegen aller Prognosen, laufen und sprechen gelernt. Eingeschränkt, aber sie kann sich bewegen und kann auch kommunizieren. Viele Schulkameraden sind schlechter noch viel schlechter darn, meint die Kördorferin.
Jessica Kraft hat den Fall ihrer Tochter jetzt öffentlich gemacht. Logisch nachvollziehbar erläutert sie in einem offenen Brief in den sozialen Medien, warum der Anbieterwechsel und die neuen Umstände für die 9-Jährige und ihre Mitfahrer ein wirkliches Problem sind und bittet die Presse um Hilfe. Einen Vorwurf macht sie übrigens nicht dem neuen Anbieter, im Gegenteil mit der Chefin der Firma gab es ein Gespräch, diese hatte in eigener Initiative das Gespräch mit der Familie gesucht, nachdem der offene Brief in den sozialen Medien auch sie erreicht hatte. Bei der Kreisverwaltung dagegen lösen weder Anrufe ernsthaft betroffener Eltern – Greta ist nämlich bei weitem kein Einzelfall – noch die offizielle Presseanfrage eine ernsthafte Reflektion oder gar ein lösungsorientiertes Handeln aus, doch dazu später mehr. Doch zunächst zurück zum chronologischen Ablauf:
Ohne jede Information der zuständigen Kreisverwaltung steht nach den Sommerferien plötzlich ein neues Unternehmen vor der Tür, für Greta eine wirkliche Herausforderung. Doch mal ganz abgesehen von Fehlern, die das Personal des neuen Anbieters in der ersten Woche offenbar macht, fehlen eminent wichtige Voraussetzungen, die beim alten Anbieter gegeben waren – zum Beispiel die Möglichkeit das für Epileptiker wichtige Notfallmedikament verabreichen zu können. Aber auch geschultes Personal, das in der Lage ist, auf die besonderen Anforderungen der Fahrgäste einzugehen. Inwieweit beides überhaupt Gegenstand der Ausschreibung war, ist fraglich. Bis zur Neuausschreibung hat jedenfalls alles perfekt funktioniert.
Im Sinne ihrer schwer kranken Tochter will die Mutter das nicht hinnehmen und wendet sich an die Fachabteilung der Kreisverwaltung, die Telefonate mit dem Sachbearbeiter geben allerdings wenig Hoffnung auf Besserung. Mit dem offenen Brief macht sie ihre Hilflosigkeit öffentlich – stellvertretend für alle Betroffenen. Die Resonanz in den sozialen Medien zeigt mehr als deutlich: Greta ist bei weitem kein Einzelfall. 56aktuell liegen diverse Schilderungen von Eltern mit gleichen Erfahrungen vor, nicht nur auf dem Schulweg zur Erich-Kästner-Schule, sondern zum Beispiel auch auf dem Weg zu einer Förderschule in Neuwied.
Der nachstehende offene Brief erreicht auch 56aktuell.
Ich brauche Ihre Hilfe. Wir haben größere Probleme mit der neuen Schülerbeförderung zur Erich-Kästner-Schule und mit dem Umgang dazu mit der Kreisverwaltung. Seit der Neuausschreibung Ende des Schuljahres haben die meisten Eltern und Kinder ein neues Busunternehmen, welches gelinde gesagt, bei uns eine Katastrophe ist. Hier werden behinderte und schwerstbehinderte Kinder transportiert. Das Personal stellt sich nicht namentlich vor. Man wurde nicht im Vorfeld gefragt, ob z.B. ein Kindersitz benötigt wird. Wir hatten Freitag vor Schulbeginn noch nicht einmal die Info welches Unternehmen fährt, geschweige denn um welche Uhrzeit das Kind geholt wird. Bis heute wurde ich nicht nach der Erkrankung meiner Tochter gefragt. Sie ist Epileptikerin, es ist kein Notfallmedikament an Bord. Ich habe Sorge es mitzugeben, da ich dem Personal die Verabreichung oral und rektal nicht zutraue. Manche der Fahrer und Begleitpersonen steigen nicht mal aus und helfen dem Kind beim Ein- und Aussteigen. Anstatt zu klingeln, stehen sie hupend im Wohngebiet. Das Personal wechselt häufig, das ist für behinderte Kinder ein Problem, da sie keine Bezugsperson haben und sich ständig auf neue Menschen einstellen müssen. Die Kinder werden mit den Worten aus dem Bus komplementiert: „Los jetzt, die anderen müssen auch Heim“. Die Kreisverwaltung habe ich informiert. Es soll angeblich einen Infotag für die neuen Busunternehmen geben. Ich habe (Auslassung des Namens, die Red.) gefragt, wann der stattfindet. Das wisse er noch nicht. Warum wird das nicht gemacht, bevor das Schuljahr und die neue Beförderung beginnt? Warum wird man als Eltern nicht informiert, wer das neue Unternehmen ist und um welche Uhrzeit das Kind geholt wird? Die meisten sind berufstätig, da müssen die Zeiten doch im Vorfeld abgesprochen werden. Höflichkeit und Respekt gegenüber den Kindern und Eltern darf man doch von einem Dienstleister, der das eigene schwerstbehinderte Kind transportiert, erwarten. Hier wird schließlich keine Fracht, sondern hier werden kleine kranke Menschen transportiert. Ich wäre Ihnen über eine Berichterstattung sehr dankbar, um damit den Druck etwas dagegen zu unternehmen zu erhöhen. Man erhält leider den Eindruck, hier gehe es mal wieder nur ums Geld. Das billigere Busunternehmen erhält den Zuschlag, egal wie schlecht die Dienstleistung am Ende ist. Das Schlimmste ist, dass am Ende unsere beeinträchtigten Kinder die Leidtragenden sind.
Umgehend schickt die Redaktion eine Anfrage an die Kreisverwaltung. Die Anfrage ist recht kurz gehalten („Hallo, da wüssten wir doch gerne mal, was die Kreisverwaltung bzw. die entsprechende Stelle zu nachstehendem Vorhalt sagt. Aus unserer Sicht absolut nachvollziehbar aus Sicht der Eltern.“) danach ist der offene Brief eingefügt. Die wenig empathische Antwort von der Insel Silberau:
Die bisherige Beförderung zur Erich-Kästner-Schule war aufgrund vergaberechtlicher Vorgaben und der Vorgaben des Landesrechnungshofes zu kündigen und neu auszuschreiben. Die Ausschreibung erfolgte über ein vom Kreis beauftragtes Fachbüro. Neben dem Preis finden noch weitere Kriterien für die Vergabe an den jeweiligen Bieter Beachtung. Hierzu zählen unter anderem Nachweise zur Leistungsfähigkeit in technischer und beruflicher Hinsicht wie bspw. den Nachweis über Erfahrungen im freigestellten Schülerverkehr und den Einsatz entsprechend geeigneter Fahrzeuge, Fahrer und Begleitpersonal. Nach dem Anlaufen der Beförderung prüft die Kreisverwaltung zusammen mit der Schule und den Unternehmen, ob die vertraglichen Anforderungen eingehalten werden und ob es Probleme bei der Beförderung gibt. Unabhängig davon gehen wir Beschwerden von Eltern oder der Schule zeitnah nach. In dem konkreten Fall haben wir das Unternehmen nochmals ausdrücklich auf seine vertraglichen Verpflichtungen hingewiesen. Hierzu zählen selbstverständlich ein angemessener Kontakt und Umgang mit allen Beteiligten der Beförderung. Auch die Absprache und Einhaltung der Beförderungszeiten zählen hierzu. Darüber hinaus soll das eingesetzte Fahr- und Begleitpersonal, soweit möglich, nicht wechseln und die Touren dementsprechend mit denselben Personen besetzt sein.
Offizielle Antwort der Kreisverwaltung Bad Ems auf eine Presseanfrage
Dass die betroffenen Familien mit dieser Antwort nicht zufrieden sein können, liegt auf der Hand.
- „Die Ausschreibung erfolgte über ein vom Kreis beauftragtes Fachbüro“
Ein grundsätzliches Übel, dass aber keineswegs nur in der Bad Emser Kreisverwaltung immer öfter eingesetzt wird. „Fach“-Büros werden mit einer früher einmal typischen Verwaltungsleistung betraut. Natürlich gegen Honorar. Sehr unwahrscheinlich, dass die Einsparung durch den günstigeren Anbieter nicht durch die Kosten der offensichtlich mangelhaften „Fach“beratung stark gemindert, wenn nicht sogar aufgezehrt wird. Warum empfiehlt das „Fach“-büro dann nicht auch der offensichtlich überforderten Kreisverwaltung – sonst hätte sie ja selbst ausschreiben können – auch die absolut nötige Kommunikation mit den Eltern?
- „Neben dem Preis finden noch weitere Kriterien für die Vergabe an den jeweiligen Bieter Beachtung“
Für jeden kommunalpolitisch Aktiven eine „interessante“ Information. Klar müssen die Leistungen der Bieter gemäß Ausschreibung vergleichbar sein und die in der Ausschreibung genannten Parameter beinhalten. Schon jedes Gemeinderatsmitglied auf dem Dorf kennt aber auch die geschwärzten Beschlussvorlagen und die glasklaren Vorgaben der Kommunalaufsicht, wenn das günstigste Angebot ermittelt ist. Fraglich ist auch wieviel Angebote in diesem Fall überhaupt eingingen.
- „Nach dem Anlaufen der Beförderung prüft die Kreisverwaltung zusammen mit der Schule und den Unternehmen, ob die vertraglichen Anforderungen eingehalten werden und ob es Probleme bei der Beförderung gibt“
Das „nach dem Anlaufen“ beleuchtet den Kern des Problems. Erstens ist „danach“ aus im offenen Brief geschilderten Gründen zu spät. Spätestens dann hätte aber mit der mehrfachen Information des Sachbearbeiters eine Erkenntnis einsetzen müssen, die zur Handlung führt, zum Beispiel zur Information und Abfrage aller Eltern im Bezug auf spezielle Erfordernisse – bis heute (dritte Schulwoche beginnt) Fehlanzeige. Zweitens heißt es aus zwei der betroffenen Schulen sinngemäß gegenüber den Eltern und auf Nachfrage: „Wir haben keinen Einfluss, wir werden nicht dazu gehört. Bei uns kommen nur Beschwerden an.“ Auch im Bezug auf das jetzt ja schon abgelöste Unternehmen stünde diese Überprüfung bis heute (!) noch aus. Nach 56aktuell vorliegenden Informationen wurde weder mit Eltern noch mit den Schulen jemals dazu kommuniziert.
Generell lässt die Antwort der Kreisverwaltung aber jedes Einfühlungsvermögen, jede – auch im jüngsten Landratswahlkampf vehement hervorgehobenen – Initiative für „noch mehr Bürgernähe“ vermissen. Das lässt sich leider nur mit Jessica Krafts Schlusssatz zusammenfassen: „Das Schlimmste ist, dass am Ende unsere beeinträchtigten Kinder die Leidtragenden sind“.
Ein Kommentar von Willi Willig
„Hier wird keine Fracht, hier werden kleine Menschen transportiert“ oder:
sorgen zu tiefe Schreibtische für Abstand von der Realität?
Die Schülerbeförderung ist eine öffentliche Leistung, zuständig dafür sind in Rheinland-Pfalz die Kreisverwaltungen. Egal ob Grundschule, Realschule plus, IGS, Gymnasium oder Förderschule für Kinder mit schwersten Behinderungen: ab einer gewissen Entfernung zwischen Wohnort und Schule besteht ein gesetzlicher Anspruch auf Beförderung. Dabei gilt für das Bus- oder Taxiunternehmen, das mit der Beförderung beauftragt wird Gleiches, wie bei allen anderen Dienstleistungen im Auftrag der öffentlichen Hand – nur wer die Ausschreibung gewinnt, bekommt den Auftrag. In der Regel ist das der günstigste Anbieter. Entscheidend ist allerdings wie die öffentliche Hand, und damit in Sachen Schülerbeförderung die Verwaltung des Rhein-Lahn-Kreises in Bad Ems, die Ausschreibung gestaltet / gestalten lässt und begleitet. In diesem Fall ist das ganz eindeutig schief gegangen – leider mit sehr wenig bis gar keiner Einsicht von Verwaltungsseite.
Ich habe den Wortlaut meiner Presseanfrage im Artikel geschildert. „Ist das die Antwort?“, sollte als weitere, kurze Ergänzung meine Fassungslosigkeit zum Ausdruck bringen. Doch wenn ich gedacht hatte, dass meine „subtile Botschaft“ ein erneutes Beschäftigen mit der Thematik auslösen würde, enthielt die E-Mail-Retoure nur vier Worte: „Das ist die Antwort“.
Wenn nach Beauftragung eines Fachbüros, Beschwerden extremst betroffener Eltern – und wir reden hier nicht von den üblichen Helikopter-Müttern, die die Kleinen am liebsten bis auf den Schulhof bringen wollen – eine solche Stellungnahme erfolgt, nachdem der zuständige Sachbearbeiter nach Schulbeginn noch nicht einmal sagen kann, wann die – definitiv vorher nötige! – Information erfolgt und auch nicht vermag ein Interesse an der Lösung des Problems zu vermitteln, dann braucht man sich auf der Insel auch nicht zu wundern, warum der Graben zwischen Bürger und Verwaltung immer größer wird. Die Verwaltung sollte Dienstleister für die Menschen im Rhein-Lahn-Kreis sein. Landrat Jörg Denninghoff hat das Schlagwort „Verwaltung als Dienstleister“ im Wahlkampf zumindest stark strapaziert. Schließlich kam er als „Quereinsteiger von außen, da sieht man manches klarer“, so hat er es zumindest 56aktuell gegenüber dargestellt. Sollten 14 Monate „Innen“dienst diesen Blick schon getrübt haben, hätte ich schon mal zwei Ideen, völlig gratis, ohne jedes Fachberater-Honorar:
- In regelmäßigen Abständen scheint es offenbar erforderlich einige Mitarbeiter daran zu erinnern, wer denn eigentlich für die monatliche Gehaltszahlung aufkommt: der Steuerzahler. (Anmerkung des Autors: zum Glück ist dies beim überwiegenden Teil der Mitarbeiter nicht erforderlich)
- Sollte das nicht helfen, könnten neue Schreibtische mit reduzierter Tiefe erforderlich sein – dann ist der Abstand zur Realität wenigstens nicht ganz so groß.
Doch noch mehr als meine Worte hätten euch, liebe (angesprochenen) Mitarbeiter der Verwaltung die Worte von Jessica Kraft nachdenklich machen sollen und zum Handeln bringen. Entweder die aus dem Schlusssatz des offenen Briefs, oder schon ein Stück weiter vorn, als sie bilanziert: „Hier wird schließlich keine Fracht, sondern hier werden kleine kranke Menschen transportiert“.