Rhodos / Arzbach | 26. Juli 2023 | (ww). „Einfach mal eine Woche Urlaub machen“ – dafür hatte Anja Schaffert aus Arzbach monatelang die sprichwörtlichen Groschen bei Seite gelegt. Viele Menschen aus der Region kennen die engagierte Arzbacherin entweder als eine der „guten Seelen“ der Arztpraxis Link in Bad Ems oder aber als aktiver Teil eines der vielen Hilfsprojekte, zu denen sie eigentlich nie „Nein“ sagen kann.
Auf Empfehlung sollte es für die Alleinreisende auf die griechische Insel Rhodos gehen. Das Ziel: das Hotel Ekaterini in Kiotari, im Süden der traumhaften Insel. Am vergangenen Samstag hebt der Flieger um 4.45 Uhr in Köln ab – Landung um kurz nach 9 Uhr auf Rhodos. Natürlich waren die Meldungen über die Waldbrände auf Rhodos vorher auch bis nach Arzbach durchgedrungen – per Facebook wendet sich Anja am Tag vor der Abreise an andere Reisende im Hotel und auf Rhodos. Die Kommentare geben aber keinen Grund zur Besorgnis (siehe Screenshot unten), eine Reisewarnung gibt es auch (noch) nicht. Gegen 12 Uhr kommt sie im Hotel an – zwei Brände sind deutlich zu sehen. Im Hotel wird schnell klar, dass das ein etwas anderer Urlaub wird – es gibt keinen Strom. Bei rund 40 Grad ohne Klimaanlage merkt man das recht schnell. Doch das sollte sich bald als das kleinste Problem herausstellen.
Doch zunächst tut Anja das, was niemanden, der sie kennt, wirklich wundert. Sie hilft Getränke und Eis an Evakuierte aus anderen Hotels zu verteilen. „Ich habe Kindern mein Bett auf dem Zimmer zur Verfügung gestellt. Natürlich, da hilft man doch“, sagt sie am 56aktuell-Telefon. Klar – zumindest wenn man Anja Schaffert ist. „Stella, die Besitzerin des Ekaterina, hat noch mit Notstrom zwei Menüs für andere Hotels gekocht“, erzählt sie am Telefon, obwohl sie selbst zu diesem Zeitpunkt – am Montagabend – eine wahre Odyssee hinter sich hat.
Um 21 Uhr am Samstag, neun Stunden nach ihrer Ankunft im Hotel, wird auch das Ekaterina schließlich evakuiert. Die Flammen sind zu nah gekommen, überall ist beißender Rauch. „Da ist nur noch jeder gerannt, es war schnell dunkel, im Treppenhaus schon kein Licht mehr. Da hab ich mich wirklich ziemlich alleine gefühlt“, schildert sie unter Tränen. Mitreisende Deutsche haben nur sich selbst im Blick, noch nicht mal mit dem Handy wird auf der Treppe (der Aufzug fährt schon lange nicht mehr) für andere geleuchtet – Anja selbst kann das Handy nicht auspacken – sie hat mit dem 23-Kilo-Koffer keine Hand frei. Aber von den Einheimischen gibt es Hilfe: Stella sieht die Arzbacherin und „packt“ sie in ein griechisches Privatauto – so kommt Anja die ersten zwei Kilometer weiter. Doch da ist Schluss, der Fahrer muss in die andere Richtung weiter – retten was zu retten ist. Nicht zum letzten Mal steht die sonst so „taffe“ Frau auf einer staubigen, griechischen Straße und weint. „Da hat mich ein griechisches Mädchen gesehen – und zack – saß ich im nächsten Auto“.
Im nächsten Ort lernt sie eine Familie aus Hannover – ebenfalls auf der Flucht vor den Flammen kennen und schließt sich ihr an. „Die Mutter, eine Grundschullehrerin, war total aufgeräumt und cool. Die hat direkt gesagt: du bleibst jetzt bei uns – wir gehen jetzt nicht in das Hotel, wir gehen ans Meer. Da brennt nichts“. Die richtige Entscheidung, wie sich kurze Zeit später zeigt. „Am Anfang waren da noch recht wenig Menschen, nachher waren es hunderte. Auch das Rote Kreuz war da, es hieß, wir würden alle mit Booten evakuiert. Zuerst kamen kleine Boote, da passten immer nur fünf Leute rein, dann kam die Armee. Und dann kamen richtige Fähren und es ist total ausgeartet, obwohl das Feuer noch ziemlich weit weg war“, beschreibt sie – um Fassung ringend – die Zustände am Strand.
Die Familie aus Hannover und Anja halten sich im Hintergrund, schließlich fährt eine große Fähre einfach auf den Strand auf, da ist auch Platz für sie. „No Koffer!“ heißt die klare Ansage, ein großes Gepäckstück nimmt schließlich einem zu rettenden Menschen den Platz weg. Und so trennen sich die Wege von Anja und ihren Habseligkeiten an diesem Strand auf Rhodos – der Koffer bleibt, wie so viele zurück am Kiesstrand von Gennadi Beach. Anja hat jetzt noch Handy, Ladegerät, Papiere und einige Hygieneartikel in ihrer Umhängetasche und das, was sie am Leib trägt.
Quer durch den beißenden Rauch fährt die Fähre, nachdem sie „gefühlt eine Stunde gebraucht hat um von dem Strand wieder loszukommen“ zu einem weiteren Strand – dann dauert es gut fünf Stunden bis sie Rhodos Stadt im Norden der Insel erreichen und zunächst im „Rhodos Palace“ ein Frühstück bekommen. Zweimal zieht sie noch um in den nächsten beiden Tagen, Sohn Enrico hat aus dem heimischen Mainz Übergangsbleiben und einen Rückflug gebucht – Rückmeldung oder Nachfrage vom Reiseveranstalter? Bis dahin Fehlanzeige!
Auch in der Stadt im Norden sind die Auswirkungen der Brände zu spüren. Immer wieder fällt der Strom auch in Rhodos Stadt aus. Zur Ruhe kommt Anja nicht wirklich. Alle verfügbaren Informationsschnipsel werden aufgesaugt. Angeblich können Flugzeuge wegen des starken Rauchs weder landen noch starten. In einer Sondersendung in einem deutschen Privatsender ist ein Anwalt zu sehen, der sagt, jeder der sich selbst um Ersatzbuchungen gekümmert hat bleibt auf seinen Kosten sitzen, am Flughafen herrsche pures Chaos – die Horrormeldungen überschlagen sich. Mittendrin erreicht ein Anruf der Hotelbesitzer die Arzbacherin – sie entschuldigen sich für das Erlebte, versprechen sich um den Koffer am Strand zu kümmern und fragen, wie sie helfen können. „Die haben grade selbst alles verloren und fragen, wie sie mir helfen können. Das ist der Hammer. Ich habe auf der Flucht so viel herzensgute und selbstlose Einheimische erlebt. Jeder stellt Wasser raus. Eine Taxifahrerin hat mit mir zusammen geweint, nachdem sie erfuhr, dass ich im gleichen Ort war, in dem ihre Familie alles verloren hat – und dann hat sie sich geweigert Geld von mir zu nehmen“, zeigt sich Anja Schaffert, die im Beruf und nach Feierabend in den verschiedensten Hilfsaktionen schon so vielen Menschen geholfen hat, beeindruckt von der Hilfsbereitschaft der Inselbewohner, von denen viele selbst alles verloren haben.
In diesen Minuten (Mittwochabend, 19.30 Uhr) müsste Anja eigentlich im Flieger sitzen und Rhodos in Richtung Köln verlassen haben, ich habe heute Mittag zuletzt am Flughafen Kontakt zu ihr gehabt. Das Chaos am Flughafen war glücklicherweise überschaubar „es sind nur unheimlich viele Feuerwehrleute da die ankommen oder abgelöst werden“ und Rauch macht Starts oder Landungen zurzeit auch keine Probleme.
Achtung Spoiler! Gestern Abend gegen 20 Uhr Ortszeit erreicht ein weiteres Gerücht Anja in ihrem Hotel. Am Rathaus von Rhodos sind einige Koffer, angeblich aus Gennadi Beach, angekommen. Mit einem Taxi fährt sie hin. Und tatsächlich: das 23-Kilo-Exemplar aus Arzbach ist auf wundersame Weise dabei. „Du glaubst gar nicht, wie glücklich einen so ein Koffer machen kann“, schickst sie eine Sprachnachricht. Doch so ein klein wenig kann ich das jetzt, glaube ich, nachvollziehen.